Der Arzt hatte bei der 47-jährigen Patientin trotz starker rektaler Blutungen lediglich Hämorrhoiden und eine Analfissur diagnostiziert, ohne eine Darmspiegelung gemacht zu haben. Neun Monate später wurde wegen eines anderen Leidens der Darmkrebs entdeckt. Er hatte jetzt bereits Metastasen in der Leber entwickelt.
Die Patientin ist daraufhin nach 4,5 Jahren Überlebenszeit mit zahlreichen belastenden Therapien und Operationen verstorben. Ihr wurde die Chance auf eine zeitgerechte, weniger invasive Behandlung von 4-5 Monaten mit vollständiger Genesung genommen. Die Kläger als Erben der verstorbenen Patientin verlangten Schmerzensgeld.
Der 9. Zivilsenat des Oberlandesgericht Braunschweig hat in diesem Fall eine Zurechnung des behandelnden Arztes durch schuldhaftes Unterlassen der gebotenen Befunderhebung nach dem Grundsatz des groben Behandlungsfehlers angenommen und den Erben ein Schmerzensgeld von 70.000 EUR sowie Schadensersatz zugesprochen.
Das Urteil des Landgerichts wurde somit bestätigt. Grundsätzlich kann sich auch der Arzt gegenüber dem Patienten, der ihn wegen fehlerhafter Behandlung und Beratung in Anspruch nimmt, darauf berufen, dass dieser den Schaden durch sein eigenes schuldhaftes Verhalten mitverursacht hat. Ein solches Mitverschulden liegt vor, wenn der Patient diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.
Der Schaden wird durch das Mitverschulden nur berührt, wenn er vom Schutzbereich der den Geschädigten treffenden Obliegenheiten erfasst ist. Das ist nur der Fall, wenn die in der Situation des Geschädigten konkret von ihm geforderte Mitwirkungspflicht gerade die Vermeidung des eingetretenen Schadens bezweckt. Bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten ist allerdings Zurückhaltung geboten.
Es obliegt zwar dem Patienten einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dies nahelegt. Dennoch hängt es von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wann die Nicht-Konsultation eines Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Umstände, die einen derartigen Sorgfaltsverstoß begründen, sind vorliegend aber nicht gegeben.
Dabei ist insbesondere zu Gunsten der Erblasserin zu berücksichtigen, dass sie zuvor bei dem Beklagten wegen ihrer rektalen Blutungen abschließend behandelt worden ist und hierfür die Diagnose „Verursachung durch Hämorrhoiden und Analfissur“ erhalten hat. Insoweit konnte und dürfte die Erblasserin zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass im Hinblick auf ihren Darm keine ernsthafte Erkrankung vorliegt.
Es stellt keinen ein Mitverschulden begründenden Sorgfaltspflichtverstoß des Patienten dar, wenn sich der Patient beim Wiederauftreten der Symptome, wie hier Darmblutungen, nach einer Fehldiagnose des Arztes, welche keinen Anlass einer zeitnahen Wiederherstellung nahelegen, nicht sofort wieder in Behandlung begibt. Vielmehr darf insoweit der Patient zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass keine ernsthafte Erkrankung vorliegt.
(OLG Braunschweig, Urteil vom 28. Februar 2019, Az. 9 U 129/15)